- 01 – Der Traum eines lächerlichen Menschen F. M. Dostojewski Quelle 11:26
- 02 – Der Traum eines lächerlichen Menschen F. M. Dostojewski Quelle 6:28
- 03 – Der Traum eines lächerlichen Menschen F. M. Dostojewski Quelle 12:12
- 04 – Der Traum eines lächerlichen Menschen F. M. Dostojewski Quelle 10:04
- 05 – Der Traum eines lächerlichen Menschen F. M. Dostojewski Quelle 13:43
F. M. Dostojewski
I
Ich bin ein lächerlicher Mensch. Jetzt nennen sie mich sogar verrückt. Dies wäre eine Rangerhöhung, wenn ich in ihren Augen nicht ebenso lächerlich bliebe wie vorher. Aber jetzt ärgere ich mich nicht mehr darüber; jetzt sind sie mir alle lieb, selbst wenn sie über mich lachen – in diesem Falle sind sie mir sogar, ich weiß nicht wodurch, ganz besonders lieb. Ich würde gerne selbst mit ihnen lachen; nicht über mich, aber ihnen zu liebe, wenn mir bei ihrem Anblick nicht so traurig zu mute würde. Traurig, weil sie die Wahrheit nicht kennen; die ich kenne. Oh, wie schwer ist es, ganz allein die Wahrheit zu wissen! Aber dies können sie nicht verstehen. Nein, sie verstehen es nicht.
Früher tat es mir sehr weh, dass ich lächerlicher schien. Nicht nur schien, sondern auch war. Ich war immer lächerlich, ich weiß es; vielleicht war ich es schon von Geburt an. Vielleicht wusste ich schon mit sieben Jahren, dass ich lächerlich war. Dann lernte ich in der Schule, dann an der Universität, und je mehr ich lernte, desto deutlicher sah ich, dass ich lächerlich war. So schienen meine ganzen Universitätsstudien, je mehr ich mich in sie vertiefte, schließlich keinen anderen Zweck zu haben, als mir zu beweisen und zu erklären, dass ich ein lächerlicher Mensch sei. Wie mit der Wissenschaft ging es mir auch im Leben. Mit jedem Jahr wuchs und festigte sich in mir das Bewusstsein meiner Lächerlichkeit, in jeder Beziehung. Immer und überall lachte man über mich. Doch keiner wusste oder keiner ahnte: dass, wenn es einen Menschen auf Erden gab, der am besten wusste, wie lächerlich ich sei, ich selbst dieser Mensch war. Und dass sie dies nicht wussten, kränkte mich am tiefsten. Aber daran war ich selbst Schuld: ich war immer so stolz, dass ich es niemals und um nichts auf der Welt jemandem gestehen wollte. Dieser Stolz wuchs bei mir mit den Jahren, und wäre es wirklich mal geschehen, dass ich jemandem, wer es auch sei, gestanden hätte, dass ich lächerlich sei, ich glaube, ich hätte mir noch am selben Abend mit einem Revolverschuss den Schädel zerschmettert. Oh, wie litt ich in meiner Knabenzeit unter der Angst, dass ich es nicht aushalten und mich irgendwie vor meinen Kameraden verraten würde! Als ich aber ein junger Mann geworden war, überzeugte ich mich zwar mit jedem Jahre immer mehr und mehr von meiner schrecklichen Eigenschaft, aber ich wurde aus irgendeinem Grunde ruhiger. Aus irgendeinem Grunde, sage ich, ihn bestimmen kann bis auf den heutigen Tage nicht. Vielleicht daher, dass mich mit der Zeit immer stärker ein Umstand bekümmerte, der unendlich viel höher stand als mein Ich: es bildete sich nämlich bei mir die Überzeugung, dass überall auf der Welt alles ganz egal sei. Ich hatte das schon vor sehr langer Zeit geahnt; aber die volle Überzeugung kam mir im letzten Jahr ganz plötzlich. Ich fühlte auf einmal, dass es mir ganz egal wäre, ob die Welt existierte oder nicht. Ich begann mit meinem ganzen Wesen zu merken und zu spüren, dass es um mich herum nichts gab. Anfangs schien mir immer, es habe wenigstens vorher vieles gegeben; aber dann kam ich zu dem Schluss, es sei auch vorher nichts dagewesen, sondern das sei mir nur so vorgekommen. Allmählich gelangte ich zu der Überzeugung, dass es auch niemals etwas geben werde. Damals hörte ich schlagartig auf, mich über die Menschen zu ärgern, und begann, sie fast gar nicht mehr zu bemerken. Wirklich, das äußerte sich sogar in den geringsten Kleinigkeiten; es kam zum Beispiel nicht selten vor, dass ich auf der Straße lief und mit den Leuten zusammenstieß. Und nicht etwa, weil ich in Gedanken versunken war; worüber hätte ich auch nachdenken sollen? Ich hatte damals ganz aufgehört nachzudenken: mir was alles egal. Wenn ich wenigstens schwierige Fragen zu lösen versucht hätte! Nein, kein einziges Problem beschäftigte mich, und wie viele gab es doch! Aber mir war alles egal, und die Fragen verschwanden alle aus meinem Gesichtskreis.
Und siehe da, nach diesen Vorgängen erkannte ich die Wahrheit. Ich erkannte die Wahrheit im vergangenen November, genau am dritten November, und seit der Zeit erinnere ich mich an jeden Augenblick meines Lebens. Es war an einem trüben, ganz trüben Abend; er war so trübe, wie er überhaupt nur sein kann. Ich kehrte damals zwischen zehn und elf Uhr abends nach Hause zurück, und wie ich mich erinnere, ging mir gerade der Gedanke durch den Kopf, dass es gar nicht trüber sein könne. Selbst in rein physischer Hinsicht. Es hatte den ganzen Tag über geregnet, und es war ein kalter, hässlicher Regen gewesen, ein Regen, der sogar, wie ich mich erinnere, ausgesprochen feindselig und unbarmherzig gegen die Menschen war; aber da hörte er nach zehn Uhr mit einem mal auf, und unangenehme Feuchtigkeit verbreitete sich, es wurde feuchter und kälter als zur Zeit des Regens, und von allen Gegenständen stieg eine Art Dampf auf, von jedem Stein auf der Straße und aus jeder Quergasse, wenn man von der Straße aus ganz tief, so weit wie möglich, hineinblickte. Ich hatte auf einmal die Idee, dass es ganz angenehm wäre, wenn überall das Gas ausginge; bei der Gasbeleuchtung fühlte sich das Herz nur noch trauriger, weil alles zu sehen war. Ich hatte an diesem Tag fast nichts zu Mittag gegessen und hatte vom Abend an bei einem Ingenieur gesessen, und bei ihm waren noch zwei Freunde gewesen. Ich hatte immerzu geschwiegen und war ihnen wohl recht langweilig vorgekommen. Sie redeten über irgendeine strittige Sache und wurden dabei sogar hitzig. Aber sie waren nur unvermittelt hitzig geworden. Ich sprach das ihnen gegenüber auch prompt aus: „Meine Herren“, sagte ich , „die Sache ist Ihnen doch vollkommen egal.“ Sie fühlten sich nicht beleidigt, sondern lachten alle über mich. Das kam daher, dass ich es ohne jeden Vorwurf gesagt hatte, einfach weil es mir selbst gleichgültig war. Sie sahen nun ein, dass es mir gleichgültig war, und wurden ganz vergnügt.
Als ich auf der Straße an das Gas dachte, blickte ich zum Himmel hinauf. Der Himmel war furchtbar dunkel; aber man konnte deutlich Wolkenfetzen unterscheiden und zwischen ihnen abgrundtiefe schwarze Flecke. Auf einmal bemerkte ich in einem dieser Flecke ein Sternchen und begann es aufmerksam zu betrachten. Das tat ich deshalb, weil dieses Sternchen mir einen Gedanken eingab: Ich beschloss, mir in dieser Nacht das Leben zu nehmen. Dasselbe hatte ich schon zwei Monate vorher fest beschlossen, mir trotz meiner Armut einen schönen Revolver gekauft und ihn gleich an jenem Tag geladen. Nun waren zwei zwei Monate vergangen, und er lag immer noch im Kasten; doch alles war mir so egal, dass ich mir schließlich vornahm, einen Augenblick abzuwarten, wo mir nicht alles egal sein würde – warum ich das tat, weiß ich nicht. Und auf diese Weise hatte ich zwei Monate hindurch jede Nacht, wenn ich nach Hause kam, gedacht, dass ich mich erschießen werde. Ich wartete immer auf einen günstigen Augenblick. Und da gab mir nun dieses Sternchen den Gedanken ein, und ich beschloß, dass es unbedingt in dieser Nacht geschehen solle. Aber warum mich das Sternchen darauf brachte, weiß ich nicht.
Und siehe da, als ich zum Himmel aufblickte, da fasste mich plötzlich ein kleines Mädchen am Ellbogen. Die Straße war schon leer und kaum ein Mensch zu sehen. In der Ferne schlief ein Droschkenkutscher auf seinem Gefährt. Das kleine Mädchen war etwa acht Jahre alt; sie hatte keinen Mantel, sondern nur ein dürftiges Kleidchen und ein kleines Tüchlein und war ganz durchnäßt; besonders aber fielen mir ihre nassen, zerrissenen Schuhe auf; und ich erinnere mich ihrer auch jetzt. Sie stachen mir besonders in die Augen. Sie begann mich auf einmal am Ellbogen zu zupfen und anzurufen. Sie weinte nicht, sondern stieß nur abgerissene Worte hervor, die sie nicht ordentlich aussprechen konnte, da sie am ganzen Körper wie im Fieberschauer zitterte. Sie war in Angst und schrie verzweifelt: Mein Mütterchen! Mein Mütterchen!“ Ich wendete mich einen Augenblick nach ihr um, sagte jedoch kein Wort und setzte meinen Weg fort; sie aber lief mir nach und zupfte mich, und in ihrer Stimme lag jener Klang, der bei geängstigten Kindern die höchste Verzweiflung bedeutet. Ich kenne diesen Klang. Obgleich sie die Worte nicht zu Ende sprach, verstand ich doch, dass ihre Mutter irgendwo im Sterben lag oder sich mit ihnen dort etwas anderes Schreckliches zugetragen hatte und sie aus dem Haus gelaufen war, um jemanden zu rufen, irgendwelche Hilfe für ihre Mutter zu finden. Aber ich folgte ihr nicht; im Gegenteil, mir kam auf einmal der Gedanke, sie wegzujagen. Zuerst sagte ich ihr, sie solle sich einen Schutzmann suchen. Aber sie faltete bittend die Händchen, lief schluchzend und atemlos immer neben mir her und wich nicht von mir. Und da stampfte ich mit den Füßen auf und schrie sie an. Sie rief nur: „Ach, Herr, ach, Herr!“, aber plötzlich verließ sie mich und rannte, so schnell sie konnte, über die Straße; dort war ein anderer Passant sichtbar geworden, und sie lief offenbar zu ihm hin.
Ich stieg in meinen fünften Stock hinauf. Ich wohne bei Leuten, die möblierte Zimmer vermieten. Ich habe ein ärmliches, kleines Zimmer mit einem halbrunden Dachfenster. Darin stehen ein mit Wachstuch bezogenes Sofa, ein Tisch, auf dem meine Bücher liegen, zwei Stühle und ein bequemer Lehnstuhl, alt, sehr alt, aber ein richtiger Großvaterstuhl. Ich setzte mich hin, zündete eine Kerze an und überließ mich meinen Gedanken. Nebenan, im Nachbarraum, der von meinem Zimmer nur durch eine dünne Zwischenwand getrennt ist, dauerte ein wüstes Treiben an. Es war schon seit mehr als zwei Tage im Gange. Dort wohnte ein pensionierter Hauptmann, und bei ihm war Besuch, etwa sechs Gestalten; sie tranken Branntwein und spielten mit alten Karten Stoß. In der vorhergehenden Nacht hatte es eine Prügelei gegeben, und ich weiß, dass zwei von ihnen sich längere Zeit gegenseitig die Haare gerauft hatten. Die Wirtin wollte sich schon beklagen; aber sie fürchtete sich gewaltig vor dem Hauptmann. Sonst haben wir als Untermieter noch eine kleine, hagere Dame von auswärts mit drei kleinen Kindern, die schon bei uns krank geworden sind. Sie und die Kinder fürchten sich bis zum Umfallen vor dem Hauptmann und zittern und bekreuzigen sich die ganze Nacht über, ja, das kleinste hat vor Angst sogar schon einen Kampfanfall bekommen. Dieser Hauptmann hält, wie ich genau weiß, manchmal die Passanten auf dem Newski-Prospekt an und bittet um Almosen. Zum Militärdienst wird er nicht wieder angenommen; aber merkwürdigerweise (und deshalb erzähle ich das überhaupt) hat er in dem Monat, seit er bei uns wohnt, bei mir keinerlei Gefühl des Ärgers erregt. Einer näheren Bekanntschaft mit ihm bin ich allerdings von vornherein ausgewichen, und auch ihm wurde die Unterhaltung mit mir schon beim ersten mal langweilig; aber mochten sie hinter ihrer Zwischenwand noch so herumschreien und mochten auch noch so viele dort sein – mir war das immer gleichgültig. Ich bin die ganze Nacht wach und höre diese Leute nicht einmal; bis zu dem Grade vergesse ich sie. Ich durchwache ja jede Nacht bis zum Morgengrauen, und das geht schon ein Jahr lang. Ich sitze nachts am Tisch im Lehnstuhl und tue nichts. Bücher lese ich nur am Tag. Ich sitze da und denke nicht einmal über etwas nach; ich sitze eben bloß; allerlei Gedanken gehen mir durch den Kopf, und ich lasse sie nach Belieben gewähren. Die Kerze brennt in der Nacht vollständig herunter. Ich setzte mich also still an den Tisch, nahm den Revolver heraus und legte ihn vor mich. Ich erinnere mich, dass ich mich fragte, als ich ihn hinlegte: „Ja?“, und mir mit aller Bestimmtheit antwortete: „Ja.“ Das hieß also: ich werde mich erschießen. Ich wusste, dass ich mich in dieser Nacht bestimmt erschießen würde; aber wie lange ich bis dahin noch am Tisch sitzen würde, das wusste ich nicht. Und ich hätte mich sicherlich erschossen, wäre nicht jenes kleine Mädchen gewesen.
II
Sehen Sie, wenn mir auch alles egal war, so fühlte ich doch zum Beispiel den Schmerz. Hätte mich jemand geschlagen, so hätte ich Schmerz empfunden. Ebenso auch in geistiger Hinsicht: hätte sich etwas sehr Trauriges ereignet, so wäre das Mitleid da, ebenso wie früher, als mir noch nicht alles egal war. Ich hatte auch jetzt Mitleid empfunden; einem Kind würde ich doch unbedingt helfen: Warum hatte ich denn aber dem kleinen Mädchen nicht geholfen? Wegen eines Gedankens, der mir gerade gekommen war: als sie mich zupfte und anrief, da trat mir auf einmal eine Frage entgegen, und ich konnte sie nicht beantworten. Es war eine müßige Frage, aber ich ärgerte mich. Ich ärgerte mich über die Schlussfolgerung, dass mir eigentlich alles in der Welt jetzt in höherem Grade als sonst egal sein müsse, da doch mein Entschluss feststehe, meinem Leben in dieser Nacht ein ende zu setzen. Warum fühlte ich denn nun auf einmal, dass mich nicht alles egal war und ich das kleine Mädchen bemitleidete? Ich erinnere mich, dass ich großes Mitleid mit ihr hatte; ich empfand davon sogar einen seltsamen, zu meiner Lage ganz und gar nicht passenden Schmerz. Ich verstehe es allerdings nicht, meine damalige momentane Empfindung besser wiederzugeben; aber die Empfindung dauerte auch zu Hause fort, als ich mich schon an den Tisch gesetzt hatte, und ich war in einer so gereizten Stimmung wie seit langem nicht. Eine Überlegung knüpfte sich an die andere. Mir war klar: wenn ich ein Mensch und noch keine Null war und mich einstweilen noch nicht in eine Null verwandelt hatte, dass ich dann lebte und folglich imstande war, zu leiden, mich zu ärgern und über meine Handlungen Scham zu empfinden. Nun gut. Aber wenn ich mich zum Beispiel nach zwei Stunden tötete, was hatte ich dann mit diesem kleine Mädchen zu tun und was ging mich dann das Schamgefühl und überhaupt alles in der Welt an? Ich verwandle mich in eine Null, in eine absolute Null. Und musste denn das Bewusstsein, dass ich bald völlig aufhören würde zu existieren und somit auch nichts anderes mehr existieren würde, musste nicht dieses Bewusstsein die Wirkung habe, das Gefühl des Mitleids mit dem kleinen Mädchen und das Gefühl der Scham über die begangene Gemeinheit aufzuheben? Ebendeshalb hatte ich ja mit den Füßen gestampft und das unglückliche Kind mit scharfer Stimme angeschrien, weil ich mir sagte: ich empfinde nicht nur kein Mitleid, sondern ich kann jetzt sogar eine unmenschliche Gemeinheit begehen, da in zwei Stunden alles erloschen sein wird. Können Sie es glauben, dass ich sie darum anschrie? Ich bin jetzt beinahe überzeugt davon. Mir war klar, dass das Leben und ie Welt gleichsam von mir abhingen. Ich kann es auch so ausdrücken: die Welt war jetzt einzig und allein für mich gemacht; wenn ich mich erschoss, so hörte, wenigstens für mich, die Welt auf zu existieren. Ganz zu schweigen davon, dass es vielleicht wirklich nach meinem Tod für niemanden mehr etwas gab und die Welt, sobald mein Bewusstsein erlosch, wie eine Vision, wie ein bloßes Attribut meines Bewusstseins sogleich mit erlosch und verschwand; denn vielleicht bestand diese Welt und alle diese diese Menschen nur aus mir allein. Ich erinnere mich, dass ich während ich so dasaß und nachdachte, alle diese neuen Frag, die nacheinander auf mich einstürmten, von einer anderen Seite zu betrachten begann und mir etwas ganz Neues ausdachte. So zum Beispiel kam mir ein seltsamer Gedanke: wenn ich früher auf dem Mond oder auf dem Mars gelebt und dort die schmählichste, ehrloseste Tat begangen hätte, die man sich nur vorstellen kann, und dort für diese Tat in einer Weise beschimpft und entehrt worden wäre, die man höchstens manchmal in einem Alptraum zu empfinden und sich vorzustellen vermag, und wenn ich dann, auf die Erde versetzt, die Erinnerung an das auf dem anderen Himmelskörper Getane bewahrte und außerdem wüsste, dass ich dorthin niemals und unter keinen Umständen zurückkehren werde: wäre mir dann, wenn ich von der Erde auf den Mond blickte, alles egal oder nicht? Würde ich über meine Tat Scham empfinden oder nicht? Die Fragen waren müßig und überflüssig, da der Revolver schon vor mir lag und ich genau wusste, dass „es“ bestimmt geschehen werde; aber sie machten mir den Kopf heiß; und ich wurde ganz wütend. Ich hatte die seltsame Vorstellung, ich könnte jetzt nicht eher sterben, ehe ich mir nicht über dies und das klargeworden sei. Kurz, das kleine Mädchen rettete mich; denn infolge der Fragen verschob ich das Erschießen. Bei dem Hauptmann war unterdessen auch alles ruhig geworden: sie hatten mit dem Kartenspiel aufgehört, schickten sich zum Schlafen an, brummten aber einstweilen noch und beschimpften einander in müder, lässiger Weise. Und da schlief ich plötzlich ein, was mir vorher noch nie vorgekommen war; ich schlief am Tisch, im Lehnstuhl ein: Ich schlief ein, ohne es zu merken. Die Träume sind bekanntlich ein seltsames Ding: manches tritt einem mit erschreckender Deutlichkeit vor Augen, mit kunstvoll feiner Ausarbeitung der Einzelheiten,während man über anderes hinwegspringt, als bemerke man es gar nicht, zum Beispiel über Raum und Zeit. Die Träume lenkt, glaube ich, nicht der Verstand, sondern das Herz; aber doch, was für komische Dinge hat manchmal mein Verstand im Traum hervorgebracht! Es gehen mitunter mit ihm im Traum ganz unbegreifliche Dinge vor. Mein Bruder ist zum Beispiel vor fünf Jahren gestorben. Ich sehe ihn mitunter im Traum: er nimmt an meinen Angelegenheiten lebhaften Anteil, wir führen darüber eifrige Gespräche; aber dabei weiß ich und erinnere mich während der ganzen Dauer des Traumes vollkommen, dass mein Bruder gestorben und begraben ist. Wie geht es nun zu, dass ich mich nicht darüber wundere, dass er obwohl er tot ist, sich doch neben mir befindet und eifrig mit mir redet? Warum erhebt mein Verstand dagegen keinerlei Einspruch? Aber genug davon! Ich komme jetzt zu meinem Traum. Ja, ich hatte einen Traum, damals, am dritten November!Die Leute necken mich jetzt damit, dass es nur ein Traum gewesen sei. Aber ist es denn nicht gleichgültig, ob es ein Traumwar oder nicht, wenn dieser Traum mir die Wahrheit verkündet hat? Denn wenn man einmal die Wahrheit erkannt und gesehen hat, so weiß man, dass sie die Wahrheit ist und dass es keine andere gibt und keine andere geben kann, ob man nun schläft oder wacht. Na, mag es auch nur ein Traum gewesen sein, meinetwegen; aber dieses Leben, das Sie so lobpreisen, wollte ich durch Selbstmord auslöschen, und mein Traum, mein Traum – oh, er hat mich ein neues, großes, erneuertes, starkes Leben offenbart! Hören Sie nun!
III
Ich habe gesagt, dass ich einschlief, ohne zu merken, und ich hatte sogar die Empfindung, als dächte ich weiter über dieselben Gegenstände nach. Auf einmal träumte mir, dass ich den Revolver nahm und ihn im Sitzen gerade auf mein Herz richtete – auf das Herz, nicht auf den Kopf; und doch hatte ich mir eigentlich vorgenommen, mir unbedingt in den Kopf zu schießen, und zwar speziell in die rechte Schläfe. Nachdem ich die Waffe gegen meine Brust gerichtet hatte, wartete ich eine oder oder zwei Sekunden, und meine Kerze, der Tisch und die Wand gerieten auf einmal vor meinen Augen in Bewegung und begannen zu schwanken. Ich gab so schnell wie möglich den Schuss ab.
Im Traum fällt man manchmal von einer Höhe hinab, oder man wird ermordet oder geschlagen, aber man fühlt niemals einen Schmerz, es sein denn dass man sich tatsächlich irgendwie am Bett stößt; dann fühlt man einen Schmerz und erwacht fast immer davon. So war es auch in meinem Traum: einen Schmerz fühlte ich nicht; aber ich hatte die Empfindung, als sei mit meinem Schuss alles in mir erschüttert und erloschen, und auf einmal wurde es schrecklich dunkel. Ich war wie geblendet und stumm, und dann lag ich lang ausgestreckt mit dem Rücken auf etwas Hartem, konnte nichts sehen und mich nicht rühren. Neben mir gingen Leute und schrien, der Hauptmann mit der Baßstimme, die Wirtin in den höchsten Tönen, und plötzlich kam wieder eine Unterbrechung – und da trug man mich schon im geschlossenen Sarg. Ich fühlte, wie der Sarg schaukelte, und dachte darüber nach, und plötzlich überraschte mich zum ersten mal der Gedanke, dass ich ja gestorben war, richtig gestorben, dass ich das wusste und nicht bezweifelte, dass ich nicht sah und mich nicht bewegt, aber doch fühlte und dachte. Indessen söhnte ich mich bald damit aus und nahm, wie das meistens im Traum ist, die Wirklichkeit ohne Widerspruch hin.
Und siehe, da ließ man mich in eine Gruft hinab und schüttete Erde darauf. Alle gingen weg; ich war allein, ganz allein. Ich bewegte mich nicht. Wenn ich mir früher im Wachen vorgestellt hatte, wie ich begraben werden würde, so hatte ich mit dem Begriff des Grabes immer nur die Empfindung der Feuchtigkeit und Kälte verbunden. So auch jetzt: ich fühlte, dass mir sehr kalt war, besonders an den Zehenspitzen; aber weiter fühlte ich nichts.
Ich lag, und merkwürdig: ich erwartete nichts, sondern nahm es ohne Widerspruch hin, dass ein Toter nichts zu erwarten hat. Aber es war feucht. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging – eine Stunde oder einige Tage oder viele Tage. Aber da fiel plötzlich auf mein linkes geschlossenes Auge ein durch den Sargdeckel gesickerter Wassertropfen; ihm folgte nach einer Minute ein anderer, darauf nach einer Minute ein dritter und so weiter und so weiter, immer in Abständen von einer Minute. Ein starker widerwille entbrannte plötzlich in meinem Herzen, und auf einmal fühlte ich in ihm einen physischen Schmerz. Das ist meine Wunde, dachte ich. Das ist von dem Schuß; da sitzt die Kugel… Die Tropfen aber fielen immer noch jede Minute, und gerade auf mein geschlossenes Auge.
Ich rief auf einmal, nicht mit der Stimme(denn ich konnte mich nicht bewegen), sondern mit meinem ganzen Wesen zu dem, nach dessen Herrscherwillen das alles mit mir vorging: „Wer du auch sein magst, aber wenn du bist und wenn etwas Vernünftigeres existiert als das, was sich jetzt vollzieht, so lass dieses Vernünftigere auch hier stattfinden. Wenn du mich aber für meinen unvernünftigen Selbstmord durch Garstigkeit und Sinnlosigkeit eines weiteren Daseins strafst, so wisse, dass keine Qual, die mir zuteil werden mag, jemals der Geringschätzung gleichkommt, die ich schweigend empfinden werde, und sollte die Qual auch Millionen Jahre dauern.“
So rief ich und verstummte dann. Fast eine Minute lang dauerte das tiefe Schweigen, und es fiel sogar noch ein Tropfen herunter; aber ich wußte und glaubte fest und unerschütterlich, dass sich jetzt gleich ändern würde.Und sieh da, auf einmal tat sich mein Grab auf. Das heißt, ich weiß nicht, ob es durch Aufgraben geöffnet wurde. Ein dunkles, mir unbekanntes Wesen ergriff mich, und wir befanden uns plötzlich im Weltenraum. Ich wurde wieder sehend: es war tiefe Nacht, und noch niemals, noch niemals hatte es eine solche Dunkelheit gegeben! Wir flogen im Weltenraum schon fern von der Erde dahin. Ich stellte keine Frage an den, der mich trug; ich wartete und war stolz. Ich gab mir selbst die Versicherung, dass ich mich nicht fürchtete, und verging fast vor Entzücken bei dem Gedanken an meine Furchtlosigkeit. Ich erinnere mich nicht, wie lange wir flogen, und habe keine Vorstellung davon: es geschah alles so wie immer im Traum, wenn man sich über Raum und Zeit und über die Gesetze des Daseins und der Vernunft hinwegsetzt und nur bei solchen Punkten verweilt, von denen das Herz träumt. Ich erinnere mich, dass ich auf einmal in der Dunkelheit einen kleinen Stern erblickte. „Ist das der Sirius?“ fragte ich; ich konnte mich nicht beherrschen, obgleich ich eigentlich nach nichts fragen wollte. „Nein, das ist jener selbe Stern, den du zwischen den Wolken sahst, als du nach Hause zurückkehrtest“, antwortete mir das Wesen, das mich trug. Ich wusste, dass eine Art Menschenantlitz hatte, Seltsamerweise liebte ich dieses Wesen nicht: ja, ich empfand sogar ihm gegenüber eine tiefe Abneigung. Ich hatte völliges Nichtsein erwartet und mir in dieser Voraussetzung in Herz geschossen. Und nun befand ich mich in den Händen eines Wesens, das allerdings kein menschliches Wesen war, aber doch war, existierte. Also gibt es auch jenseits des Grabes ein Leben, dachte ich mir der seltsamen Leichtfertigkeit des Traums, aber das eigentliche Wesen meines Herzens blieb im tiefsten Grunde unverändert. Und wenn ich von neuem sein und wieder nach jemandes unwiderstehlichem Willen leben muss, so will ich mich nicht besiegen und erniedrigen lassen, dachte ich. „Du weißt, dass ich mich vor dir fürchte, und verachtest mich wohl deswegen?“ sagte ich auf einmal zu meinem Gefährten; ich vermochte diese erniedrigende Frage, die ein Bekenntnis einschloss, nicht zurückzuhalten und fühlte im Herzen meine Erniedrigung wie einen Nadelstich. Er antwortete nicht auf meine Frage; aber ich fühlte plötzlich, dass ich nicht verachtet, nicht verlacht und nicht einmal bemitleidet wurde und dass unser Weg ein unbekanntes, geheimnisvolles Ziel hatte, das zu mir allein in Beziehung stand. Meine Angst wuchs. Stumm, aber unter Qualen teilte sich mir etwas von meinem schweigsamen Gefährten mit und durchdrang mich gewissermaßen. Wir flogen in dunklen, unbekannten Räumen. schon längst sah ich die dem Auge bekannten Gestirne nicht mehr. Ich wusste, dass es in den himmlischen Räumen Sterne gibt, deren Strahlen erst in Tausenden, ja Millionen von Jahren zur Erde gelangen. Vielleicht durchflogen wir schon diese Räume. Ich erwartete etwas mit einer furchtbaren Unruhe, die mein Herz quälte. Und plötzlich erschütterte mich ein bekanntes und im höchsten Grade angenehmes Gefühl; ich erblickte auf einmal unsere Sonne! Ich wusste, dass das nicht unsere Sonne sein konnte, von der unsere Erde geboren ist, und dass wir uns unendlich entfernt von unserer Sonne befanden; aber ich erkannte mit meinem ganzen Wesen, dass dies eine ebensolche Sonne war wie die unsrige, ihre Wiederholung, ihre Doppelgängerin. Ein angenehmes, wonniges Gefühl rief Begeisterung in mir hervor: das war die Kraft des Lichtes, jenes Lichtes, das mich geboren hatte, es fand einen Widerhall in meinem Herzen und erweckte mich, und ich spürte zum ersten mal nach meinem Begräbnis in mir wieder Leben, das frühere Leben.
„Aber wenn das die Sonne ist, wenn das ebensolche Sonne ist wie die unsrige“, rief ich, „wo ist dann die Erde?“ Mein Gefährte wies auf einen kleinen Stern, der in der Dunkelheit in smaragdenen Glanz schimmerte. Wir flogen gerade auf ihn zu.
„Sind solche Wiederholungen im Universum wirklich möglich, ist das ein Naturgesetz? Und wenn das dort die Erde ist, ist es dann wirklich eine ebensolche Erde wie die unsrige… eine ebenso unglückliche, arme, aber doch teure und ewig geliebte Erde, die qualvolle Liebe sogar bei ihren undankbarsten Kindern erweckt?“ rief ich, zitternd vor unbezwinglicher, enthusiastischer Liebe zu jener heimischen früheren Erde, die ich verlassen hatte. Das Bild der armen Kleinen, gegen die ich mich so häßlich benommen hatte, schimmerte vor meinen geistigen Augen auf.
„Du wirst alles sehen“, antwortete mein Gefährte, un deine gewisse Traurigkeit war aus dem Klang seiner Stimme herauszuhören. Aber wir näherten uns schnell dem Planeten. Er wuchs vor meinen Augen; ich unterschied schon den Ozean, die Umrisse Europas, und auf einmal flammte das seltsame Gefühl einer großen, heiligen Eifersucht in meinem Herzen auf: Wie kann es nur eine derartige Wiederholung geben, und wozu? Ich liebe nur jene Erde, die ich verlassen habe und auf der Spritzflecken meines Blutes zurückgeblieben sind, als ich Undankbarer durch eienn Schuss in Herz mein Leben auslöschte; und ich kann nur sie lieben. Niemals, niemals habe ich aufgehört, sie zu lieben. Und sogar in jener Nacht, als ich mich von ihr trennte, habe ich sie vielleicht mit größerer Qual geliebt als je. Gibt es auch auf dieser Erde Qualen? Auf unserer Erde können wir nur mit Qualen und nur durch Qualen lieben! Wir verstehen nicht anders zu lieben und kennen keine andere Liebe. Mich verlangt nach Qual, um zu lieben. Es verlangt mich, ich dürste in diesem Augenblick danach, nur jene Erde, die ich verlassen habe, unter Tränenströmen zu küssen; ich will kein Leben auf einer andern Erde, ich lehen es ab!
Aber mein Gefährte hatte mich schon verlassen. Ganz unmerklich war ich mit einem mal auf dieser andern Erde im hellen Licht eines paradiesisch schönen, sonnigen Tages gelandet. Ich glaube, ich stand auf einer jener Insel, die auf unserer Erde den griechischen Archipel bilden, oder irgendwo am Gestade des Festlands, das an diesem Archipel liegt. Oh, alles war ganz so wie bei uns; aber alles schien zu strahlen wie an einem Feiertag, als wäre endlich ein großer, heiliger Triumph erreicht. Das freundliche, smaragdgrüne Meer plätscherte leise an den Ufern und küßte sie mit offensichtlicher, beinahe bewusster Liebe. Hohe, schöne Bäume standen da im vollen Schmuck ihrer Blüte, und die zahllosen Blättchen mit ihrem leisen, freundlichen Rauschen hießen mich willkommen (davon bin ich überzeugt) und schienen Worte der Liebe zu sprechen. Der Rasen leuchtete von bunten, duftenden Blumen. Kleine Vögel flogen scharenweise in der Luft umher, setzten sich mir ohne Furcht auf die Schultern und auf die Hände und schlugen mich fröhlich mit ihren allerliebsten, flatternden Flügelchen. Und endlich erblickte und erkannte ich die Menschen dieser glücklichen Erde. Sie kamen von selbst zu mir, umringten mich und küssten mich. Diese Kinder der Sonne, diese Kinder ihrer Sonne, oh wie schön waren sie! Niemals hatte ich auf unserer Erde bei Menschen solche Schönheit gesehen. Höchstens bei unseren Kindern in ihren ersten Lebensjahren könnte man einen entfernten, allerdings nur schwachen Schimmer dieser Schönheit finden. Die Augen der glücklichen Menschen leuchteten in klarem Glanz. Ihre Gesichter strahlten von Verstand und abgeklärter Erkenntnis; diese Gesichter waren heiter; aus den Stimmen und Worten der Menschen klang eine kindliche Freude heraus. Oh, sofort, beim ersten Blick auf ihre Gesichter, verstand ich alles, alles! Das war nicht die durch den Sündenfall entweihte Erde; auf ihr lebten sündlose Menschen; sie lebten in einem solchen Paradies, in dem nach den Überlieferungen der Menschheit auch unsere sündigen Ureltern ursprünglich gelebt hatten, nur mit dem Unterschied, dass die Erde hier überall ein Paradies war. Diese Menschen umdrängten mich mit fröhlichem Lachen und liebkosten mich: sie führten mich in ihre Wohnungen, und jeder von ihnen wollte mich besänftigen. Oh, sie befragten mich nach nichts, sondern wussten, wie mir schien, schon alles und wünschten so schnell wie möglich den Ausdruck des Leidens von meinem Gesicht zu verscheuchen.
IV
Ich sage noch einmal: Na, mag es auch nur ein Traum gewesen sein! Aber die Empfindung der Liebe dieser unschuldigen Menschen ist mir für alle Zeit geblieben, und ich fühle, dass ihre Liebe sich auch jetzt von dort auf mich ergießt. Ich selbst habe diese Menschen gesehen, sie kennengelernt, mich von ihrem Wesen überzeugt, sie lieb gewonnen und nachher um sie gelitten. Oh, ich begriff sofort, sogar damals schon, dass ich sie in vieler Hinsicht überhaupt nicht verstehen würde; mir als modernem russischem Fortschrittler und garstigem Petersburger schien es zum Beispiel unerklärlich, dass sie, die doch soviel wussten, unsere Wissenschaft nicht besaßen. Aber ich begriff bald, dass ihr Wissen durch andere Einsichten genährt und zur Vollkommenheit gebracht wurde als bei uns auf der Erde und dass auch ihre Bestrebungen ganz andere waren. Sie wünschten nichts und waren in ihrer Seele ruhig; sie strebten nicht nach Erkenntnis des Lebens in der Weise, wie wir es tun; denn ihr Leben hatte bereits einen vollen Inhalt. Aber ihr Wissen war tiefer und größer als unsere Wissenschaft; denn unsere Wissenschaft sucht zu erklären, was das Leben eigentlich ist; sie strebt danach, es zu erkennen, um andere zu lehren,wie sie leben sollen; jene aber wussten auch ohne Wissenschaft, wie sie zu leben hatten, und das begriff ich; aber ihr Wissen konnte ich nicht begreifen. Sie wiesen auf ihre Bäume, und ich vermochte den Grad von Liebe, mit dem sie sie betrachteten, nicht zu begreifen: sie redeten von ihnen, als wären es ihnen ähnliche Wesen. Und wissen Sie, vielleicht irre ich mich nicht, wenn ich sage, dass sie mit ihnen sprachen! Ja, sie kannten die Sprache der Bäume, und ich bin überzeugt, dass auch diese die Sprache der Menschen verstanden. Von der gleichen Art war auch ihr Verhältnis zur übrigen Natur, zu den Tieren, die friedlich mit ihnen zusammenlebten, sie nicht anfielen und sie liebten, da sie von der Liebe der Menschen überwunden waren. Sie wiesen auf die Sterne und sagten mir etwas darüber, was ich nicht begreifen konnte; aber ich bin überzeugt, dass sie auf irgendeine Weise mit den himmlischen Sternen in Verbindung standen, nicht nur durch ihre Gedanken, sondern auf lebendigem Wege. Oh, diese Menschen trachteten nicht danach, dass ich sie verstehen möchte; sie liebten mich auch ohnedies; aber andererseits wusste ich, dass auch sie mich niemals verstehen würden, und darum redete ich mit ihnen fast gar nicht von unserer Erde. Ich küsste nur nur vor ihren Augen jene Erde, die sie bewohnten, und bezeigte ihnen damit ohne Worte meine hohe Verehrung, und sie sahen das und ließen es geschehen, dass ich es tat, und schämten sich nicht darüber, dass ich sie deswegen verehrte, weil sie mich so sehr liebten. Sie grämten sich nicht um meinetwillen, wenn ich ihnen manchmal unter Tränen die Füße küsste und mir dabei freudig bewusst war, mit welch starker Liebe sie die meinige erwiderten. Mitunter fragte ich mich erstaunt, wie es zuging, dass sie während der ganzen Zeit einen Menschen wie mich nicht kränkten und kein einziges Mal in einem Menschen wie mir das Gefühl der Eifersucht und Neids weckten. Oftmals fragte ich mich, wie es zuging, dass ich , ein Prahler und Lügner, ihnen nicht von meinen Kenntnissen erzählte, von denen sie sicher keine Vorstellung hatten, und nicht den Wunsch hatte, sie in Erstaunen zu versetzen, sei es auch nur aus Liebe zu ihnen. Sie waren ausgalassen und fröhlich wie Kinder. Sie schweiften in ihren schönen Hainen und Wäldern umher; sie sangen ihre schönen Lieder; sie näherten sich in leichter Kost, von den Früchten ihrer Bäume, dem Honig ihrer Wälder und der Milch der sie liebenden Tiere.Für ihre Nahrung und Kleidung wendeten sie nur wenig Mühe auf. Es gab bei ihnen Liebe, und es wurden Kinder geboren; aber niemals sah ich Ausbrüche jener grausamen Wollust, die fast allen Menschen auf unserer Erde eigen ist, allen und jedem, und die Quelle fast aller Sünden unserer Menschheit ist. Sie freuten sich über die Kinder, die sich bei ihnen einstellten, wie über neue Teilnehmer an ihrer Glückseligkeit. Es gab unter ihnen keine Streitigkeiten und keine Eifersucht, und sie begriffen nicht einmal, was das war. Ihre Kinder waren die Kinder aller, da alle eine einzige Familie bildeten. Sie kannten fast gar keine Krankheiten, obgleich es den Tod bei ihnen gab; aber ihre Greise verschieden so sanft, als ob sie einschliefen, umringt von Menschen, die ihnen Lebewohl sagten, sie segneten, ihnen zulächelten und deren heiteres Lächeln sie geleitete. Trauer und Tränen habe ich dabei nicht gesehen; man spürte nur eine bis zum Entzücken gesteigerte Liebe; aber dieses Entzücken war ein ruhiges, vollbefriedigtes, kontemplatives. Man konnte denken, dass sie mit ihren Verstorbenen sogar noch nach deren Tod in Verbindung standen und dass die Gemeinschaft, in der sie mit ihnen während des Erdenlebens gestanden hatten, durch Tod nicht aufgehoben wurde. Sie begriffen mich kaum, als ich sie nach dem ewigen Leben fragte, waren aber von diesem offenbar so fest überzeugt, dass es für sie keine Streitfrage bildete. Sie hatten keine Tempel, standen aber in einer Art steter, lebendiger, ununterbrochener Gemeinschaft mit dem Universum; sie hatten keinen Glauben, aber dafür das feste Wissen, dass für sie noch engere Beziehungen zum Universum einträten, sobald ihre irdische Freude an die Grenzen der irdischen Natur gelangt sei. Sie erwarteten diesen Augenblick mit Freude, aber ohne Ungeduld, ohne sich mit Schmerz nach ihm zu sehnen, sondern sie schienen ihn schon in ihren Herzen zu ahnen und machten einander von diesen Ahnungen Mitteilung. Abends vor dem Schlafen sangen sie gern harmonische, wohlklingende Chorlieder. In diesen Liedern gaben sie ihre Gefühle wieder, die der scheidenden Tag in ihnen erregte, priesen ihn und nahmen von ihm Abschied. Sie priesen die Natur, die Erde, das Meer, die Wälder. Sie verfassten gern Lieder und lobten einander wie Kinder; das waren ganz einfache Lieder; aber sie kamen aus dem Herzen und fanden den Weg zum Herzen. Und nicht nur in den Liedern priesen sie sich gegenseitig, sondern auch ihr ganzes Leben füllten sie, wie es schien, damit aus, dass sie einander liebten und bewunderten. Es war eine Art wehselseitiger, allgemeiner, gemeinschaftlicher Verliebtheit. Manche ihrer triumphierenden, begeisterten Lieder blieben mir fast unverständlich. Obwohl ich die Worte verstand, konnte ich doch nie richtig in ihren Sinn eindringen. Der Sinn blieb für meinen Verstand unfassbar; dafür drang er mir tief ins Herz, und zwar immer mehr. Ich sagte ihnen oft, ich hätte das alles früher schon längst geahnt; diese ganze Freude und Herrlichkeit habe sich mir schon auf unserer Erde durch eine süße Sehnsucht kundgetan, die sich zeitweilig bis unerträglichem Leid gesteigert habe; ich hätte sie und ihre Herrlichkeit in den Träumen meines Herzens und in den Phantasien meines Verstandes geahnt; ich hätte auf unserer Erde oft nicht ohne Tränen in die untergehende Sonne blicken können. Mit meinem Hass gegen die Menschen unserer Erde sei immer das Gefühl des Grams verbunden gewesen: ich hätte mich gefragt, warum ich sie nicht hassen könne, ohne sie zu lieben; warum ich ihnen immer verziehe, aber bei meiner Liebe zu ihnen doch Gram empfände; warum ich sie nicht hassend lieben könne. Sie hörten mich an, und ich sah, dass sie sich das, was ich sagte, nicht vorstellen konnten; aber ich bedauerte nicht, es ihnen gesagt zu haben; ich wußte, dass sie meinen Gram um diejenigen, die ich verlassen hatte, in seiner ganzen Größe begriffen. Ja, wenn sie mich mit ihrem freundlichen, liebevollen Blick ansahen, wenn ich fühlte, dass im Verkehr mit ihnen auch mein Herz unschuldig und rechtschaffen wurde, dann bedauerte ich nicht, dass ich sie nicht verstand. Die Empfindung der Fülle des Lebens erdrückte mich fast, und ich betete schweigend für sie.
Oh, alle lachen mir jetzt ins Gesicht und versichern mir, solche Einzelheiten, wie ich sie wiedergäbe, könne man nicht einmal träumen; ich hätte in meinem Traum nur eine einzige Empfindung gehabt, die durch mein eigenes Herz in seinem irren Phantasieren hervorgerufen worden sei; die Einzelheiten aber hätte ich erst nach dem Erwachen erdacht. Und als ich ihnen gestand, dass es vielleicht wirklich so zugegangen sei – o Gott, in was für ein Gelächter brachen sie da aus, und in welche Heiterkeit versetzte ich sie! Oh ja, allerdings hatte mich nur die eine Empfindung jenes Traums überwältigt, und nur sie allein hatte sich in meinem wunden, blutenden Herzen erhalten; die wirklichen Bilder und Formen meines Traums aber, das heißt diejenigen, die ich tatsächlich während des Träumens sah, waren von so vollkommener Harmonie, von so bezaubernder Schönheit und Wahrheit, dass ich nach dem Erwachen nicht imstande war, sie durch unsere schwachen Worte zu verkörpern;sie vergingen und verschwanden deshalb notwendigerweise in meinem Geist, und ich war unbewusst daher vielleicht gezwungen, die Einzelheiten später dichterisch zu rekonstruieren, wobei ich sie allerdings entstellt, besonders da ich leidenschaftlich wünschte, sie so schnell wie möglich wenigstens einigermaßen wiederzugeben. Aber andererseits, wie kann man sich weigern, mir zu glauben, dass sich alles so verhielt? Vielleicht war es noch tausendmal besser, schöner, freudevoller, als ich es schildere? Mag es ein Traum gewesen sein; aber es war doch nicht möglich, dass das alles nicht gewesen sein sollte. Wissen Sie, ich werde Ihnen ein Geheimnis verratenn: Vielleicht war das alles überhaupt kein Traum? Dennn dort begab sich etwas Derartiges, etwas so erschreckend Wahrhaftiges, dass man es gar nicht bloß hätte träumen können. Mag auch mein Herz den Traum erzeugt haben; aber war denn mein Herz allein imstande, jenen schrecklichen wahren Vorgang zu erzeugen, der sich dann mit mir zutrug? Wie hätte ich ihn ausdenken oder träumen können? Konnten etwa mein kindliches Herz und mein launenhafter, wertloser Verstand sich zu einer solchhen Offenbarung der Wahrheit emporschwingen? Oh, urteilen Sie selbst: ich habe es bisher verschwiegen; aber jetzt will ich auch diese Wahrheit aussprechen: Die Sache ist die, dass ich… sie alle verdarb!
V
Ja, ja, es endete damit, dass ich sie alle verdarb! Wie das geschehen konnte, weiß ich nicht; aber an die Sache selbst erinnere ich mich deutlich. Der Traum durchflog Jahrtausende und hinterließ in mir nur eine Gesamtempfindung. Ich weiß nur, dass ich die Ursache des Sündenfalls war. Wie eine garstige Trichine, wie ein Pestatom das Reich infiziert, so infizierte auch ich diese vor meiner Ankunft so glückliche, sündlose Erde. Sie lernten lügen und gewannen die Lüge lieb und erkannten die Schönheit der Lüge. Oh, das begann vielleicht ganz harmlos, mit Scherz, mit Koketterie, mit verliebtem Spiel,wirklich vielleicht mit einem Atom; aber dieses Atom der Lüge drang in ihre Herzen ein und gefiel ihnen. Darauf entstand schnell Sinnlichkeit; die Sinnlichkeit erzeugte Eifersucht, die Eifersucht Grausamkeit… Oh, ich weiß nicht,ich erinnere mich nicht; aber bald, sehr bald floß das erste Blut: sie staunten und erschraken und begannen sich voneinander zu trennen und abzusondern. Es bildeten sich Vereinigungen; aber diese richteten nun schon ihre Spitze gegeneinander. Es begannen Vorwürfe und Beschuldigungen. Sie lernten die Scham kennen und erhoben die Scham zur Tugend. Es bildete sich der Begriff der Ehre heraus und entrollte in jeder Vereinigung eine Fahne. Sie begannen die Tiere zu quälen, und die Tiere entfernten sich von ihnen in die Wälder und wurden ihre Feinde. Es begann der Streit um die Trennung, um die Absonderung, um die Persönlichkeit, um das Mein und Dein. Sie fingen an, in verschiedenen Sprachen zu reden. Sie lernten das Leid kennen und gewannen das Leid lieb; sie dürsteten nach Qual und sagten, die Wahrheit lasse sich nur durch Qual erreichen. Damals erschien bei ihnen auch die Wissenschaft. Als sie böse geworden waren, redeten sie von Brüderlichkeit und Humanität und verstanden diese Ideen. Als sie Verbrecher geworden waren, erfanden sie die Gerechtigkeit und schrieben sich ganze Gesetzbücher, um ddie Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten, und stellten, um die Gesetzbücher zu sichern, die Guillotine auf. Sie erinnerten sich kaum noch an das, was sie verloren hatten, und wollten nicht einmal glauben, dass sie jemals unschuldig und glücklich gewesen seien. Sie spotteten sogar über die Vorstellung von diesem ihrem früheren Glück und nannten sie ein Hirngespinst. Sie konnten sich von der Art und Weise dieses Glücks kein Bild mehr machen; aber es begab sich etwas Seltsames und Wunderliches: obwohl sie jeden Glauben an das frühere Glück verloren hatten und es ein Märchen nannten, begehrten sie doch in solchem Maße, wieder unschuldig und glücklich zu sein, dass sie sich vor dem Wunsch ihres Herzens wie Kinder niederwarfen, diesen Wunsch vergötterten, ihm Tempel erbauten und anfingen, zu ihrer eigenen Idee, zu ihrem eigenen „Wunsch“ zu beten; und während sie von der Unmöglichkeit der Erfüllung und Verwirklichung dieses Wunsches vollkommen überzeugt waren, vergötterten sie ihn doch gleichzeitig unter Tränen und beugten die Knie vor ihm.Und doch, wenn es möglich gewesen wäre, dass sie zu dem verlorenen Zustand der Unschuld und des Glücks zurückgekehrt wären, und wenn sie jemand von neuem darauf hingewiesen und sie gefragt hätte, ob sie zu ihm zurückkehren wollten, so hätten sie diese Frage bestimmt verneint. Sie antworteten mir: „Mögen wir auch Lügner, Bösewichte und Ungerechte sein, wir wissen dass und weinen darüber und quälen uns deswegen selbst, und wir martern und bestrafen uns vielleicht sogar mehr als jener barmherzige Richter, der uns richten wird und dessen Namen wir nicht kennen. Aber wir haben die Wissenschaft, und durch sie werden wir die Wahrheit von neuem finden; aber dann werden wir sie mit Bewußtsein aufnehmen. Das Wissen steht höher als das Gefühl, die Erkenntnis des Lebens höher als das Leben. Die Wissenschaft wird uns Weisheit geben; die Weisheit wird die Gesetze aufdecken; die Kenntnis der Gesetze des Glücks aber steht höher als das Glück.“ So redeten sie zu mir, und nach solchen Worten liebte jeder sich selbst am meisten, und sie konnten überhaupt nicht anders handeln. Jeder war mit solcher Eifersucht auf die Wahrung seiner Persönlichkeit bedacht, dass er sich mit aller Kraft bemühte, die Persönlichkeit der andern zu erniedrigen und klein zu machen; und darein setzte er seine Lebensaufgabe. Es kam die Sklaverei auf; sogar eine freiwillige Sklaverei kam auf, die Schwachen ordneten sich willig den Stärksten unter und bedangen sich dabei nur aus, dass diese ihnen helfen sollten, die noch Schwächeren zu unterdrücken. Es traten Gerechte auf, die zu diesen Menschen kamen und mit Tränen zu ihnen von ihrem Stolz, von dem Verlust des rechten Maßes und der Harmonie und von dem Verlust der Scham redeten. Man spottete über sie oder steinigte sie.Heiliges Blut floß auf den Schwellen der Tempel. Dafür aber erschienen Leute, die sich eine Art und Weise auszudenken versuchten, wie sich alle wieder so vereinigen könnten, dass jeder, ohne dass er aufhören musste, sich selbst mehr als alle andern zu lieben, gleichzeitig keinen andern störte und auf diese Art alle wie in einer einträchtigen Gesellschaft zusammenlebten. Ganze Kriege entstanden als Folge dieser Idee. Alle Kriegführenden glaubten zu gleicher Zeit fest, dass die Wissenschaft, die Weisheit und der Selbsterhaltungstrieb die Menschen endlich zwingen würden, sich zu einer einträchtigen, vernünftigen Gesellschaft zu vereinigen; und darum bemühten sich einstweilen zur Bescheleunigungder Sache die „Weisen“, möglichst schnell alle „Unweisen“, die ihre Idee nicht begriffen, auszurotten, damit sie dem Triumph der Idee nicht hinderlich wären. Aber der Selbsterhaltungstrieb wurde bald schwächer; es traten stolze, sinnliche Männer auf, die alles oder nichts forderten. Um alles zu erlangen, griffen sie zur Übeltat, und wenn es ihnen glückte, zum Selbstmord. Es entstanden Religionen mit dem Kultus des Nichtseins und der Selbstvernichtung zum Zweck der ewigen Ruhe im Nichts. Endlich wurden diese Menschen müde bei ihrem sinnlosen Bemühen und auf ihren Gesichtern erschien der Ausdruck des Leidens, und diese Leute verkündeten, das Leiden sei, Schönheit; denn nur im Leiden liege Sinn. Sie besangen das Leiden in ihren Liedern. Ich ging händeringend umher und weinte über sie; aber ich liebte sie vielleicht noch mehr als früher, da auf ihren Gesichtern noch kein Ausdruck des Leidens lag und sie so unschuldig und so schön waren. Ich liebte ihre von ihnen entweihte Erde noch mehr als zu der Zeit, wo sie ein Paradies war, nur darum, weil auf ihr das Leid erschienen war. Ach, ich hatte immer Leid und Gram geliebt, aber nur insgeheim, für mich allein; aber über sie weinte ich , weil ich sie bemitleidete. Die Arme nach ihnen ausstreckend, beschuldigte, verfluchte und verachtete ich in meiner Verzweiflung mich selbst. Ich sagte ihnen, isch sei es, der dies alles angerichtet habe, nur ich; Sittenverderbnis, Ansteckung und Lüge hätte ich gebracht! Ich fleht sie an, mich ans Kreuz zu schlagen; ich unterwies sie, wie man ein Kreuz macht. Ich vermochte nicht, ich hatte nicht die Kraft, mich selbst zu töten; aber ich wollte von ihnen Qualen empfangen; ich dürstete nach Qualen; ich dürstete danach, in diesen Qualen mein Blut bis auf den letzten Tropfen zu vergießen. Aber sie lachten nur über mich und hielten mich schließlich für einen Halbverrückten. Sie verteidigten mich, indem sie sagten, sie hätten nur das empfangen, was sie sich selbst gewünscht hätten, und alles, was jetzt bestände, habe sich mit innerer Notwendigkeit so gestaltet. Zuletzt erklärten sie mir, ich würde ihnen gefährlich und sie würden mich ins Irrenhaus setzen, wenn ich nicht schwiege. Da wurde ich so von Kummer übermannt, dass mein Herz sich zusammenzog und ich sterben zu müssen glaubte… nun, und da erwachte ich. Es war schon Morgen; das heißt, hell geworden war es noch nicht; aber es war zwischen fünf und sechs Uhr. Ich saß noch immer im Lehnstuhl, meine Kerze war ganz heruntergebrannt, beim Hauptmann schliefen alle, und ringsum herrschte eine Stille, wie sie in unserer Wohnung nur selten vorkam. Das erste, was ich tat, war, dass ich höchst erstaunt aufsprang; noch nie war mir etwas Ähnliches begegnet, nicht einmal, was unbedeutende Einzelheiten betraf: zum Beispiel war ich noch nie so in meinem Lehnstuhl eingeschlafen. Dann, während ich dastand und meine Gedanken sammelte, sah ich plötzlich vor mir meinen geladenen, schußfertigen Revolver schimmern; aber im nächsten Augenblick stieß ich ihn von mir! Oh, jetzt hatte ich das Leben nötig, das Leben! Ich hob die Arme und rief die ewige Wahrheit an; aber Tränen erstickten meine Stimme; Begeisterung, unermessliche Begeisterung beseelte mein ganzes Wesen. Ja, leben und – verkündigen! Oh, ein Verkündiger zu werden, beschloss ich gleich in jenem Augenblick, und zwar natürlich fürs ganze Leben! Ich werde hingehen, um zu verkündigen; ich will verkündigen – was? Die Wahrheit; denn ich habe sie gesehen; ich habe sie mit meinen Augen gesehen; ich habe sie gesehen; ich habe sie mit meinen Augen gesehen; ich habe ihre ganze Herrlichkeit gesehen!
Und seitdem verkündige ich nun! Ich füge hinzu: ich liebe alle, die über mich lachen, mehr als ale übrigen. Warum ich das tue, weiß ich nicht und kann ich nicht erklären; aber mag es meinetwegen so sein! Sie sagen, ich ginge auch jetzt schon fehl, und wenn ich jetzt schon so fehlginge, was werde dann erst in Zukunft geschehen? Um die reine Wahrheit zu sagen: ich gehe fehl, und vielleicht wird es in Zukunft noch schlimmer werden. Sicherlich werde ich noch mehrmals fehlgehen, bis ich gefunden haben werde, wie man verkündigen muss, das heißt mit welchen Worten und mit welchen Taten; denn das richtig auszuführen ist sehr schwer. Ich sehe ja auch jetzt das alles sonnenklar; aber hören Sie: wer geht denn nicht fehl? Und dabei gehen doch alle zu ein und demselben Ziel; wenigstens streben alle nach ein und demselben Ziel, von dem Weisen bis zu dem gmeinsten Räuber, nur auf verschiedenen Wegen. Das ist eine alte Wahrheit; aber neu ist dabei dies; ich kann gar nicht so sehr fehlgehen. Denn ich habe die Wahrheit gesehen; ich habe sie gesehen und weiß dass die Menschen schön und glücklich sein können, ohne dass sie darum die Fähigkeit, auf der Erde zu leben, verloren zu haben brauchen. Ich will und kann nicht glauben, dass das Böse der normale Zustand der Menschen sei. Alle lachen jedoch nur über meinen Glauben. Aber wie kann sich jemand weigern, mir zu glauben: ich habe ja die Wahrheit gesehen – nicht, dass ich sie erfunden hätte, sondern ich habe sie gesehen, wirklich gesehen, und ihre lebende Gestalt hat mich auf ewig erfüllt. Ich habe sie in solcher Vollkommenheit gesehen, dass ich nicht glauben kann, sie wäre bei den Menschen ein Ding der Unmöglichkeit. Und wie soll ich denn eigentlich fehlgehen? Ich werde ein wenig abweichen, gewiss, sogar öfters, und werde vielleicht sogar it ungeeigneten Worten reden, aber nicht lange: die lebende Gestalt dessen, was ich gesehen habe, wird mich immer begleiten und mich immer wieder auf den richtigen Weg bringen und meine Schritte lenken. Oh, ich bin mutig, ich habe frische Kraft; ich werde hingehen, ich werde hingehen, und wäre es auch auf tausend Jahre. Wissen Sie, ich wollte es sogar anfangs verheimlichen, dass ich sie alle verdorben habe; doch das wäre ein Fehler gewesen – gleich der erste Fehler! Aber die Wahrheitflüsterte mir zu, dass ich im Begriff sei zu lügen, und bewahrte mich und hielt mich auf rechter Bahn. Aber wie das Paradies herzustellen sei, das weiß ich nicht, weil ich nicht verstehe, es mit Worten auszudrücken. Nach meinem Traum sind mir die rechten Worte verlorengegangen. Wenigstens die wichtigsten Worte, die notwendigsten: Aber mag das auch sein, ich werde hingehen und werde immer reden, unermüdlich, denn ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen, wenn ich auch nicht verstehe, das Geschehene mit Worten wiederzugeben. Aber gerade das können die Spötter nicht begreifen: „Er hat geträumt“, sagen sie, „hat phantasiert, eine Halluzination gehabt.“ Ach, so ein Gerede! Ist denn das klug? Und sie sind so stolz! Ein Traum? Was ist denn ein Traum? Ist nicht unser Leben ein Traum? Ja, ich will noch mehr sagen: angenommen, dass sich das nie verwirklichen wird und das Paradies unmöglich ist (das sehe ich ja auch schon selbst ein!) – nun, so werde ich dennoch meine Lehre verkündigen. Aber dabei wäre es doch so einfach: an einem einzigen Tag, in einer einzigen Stunde könnte alles mit einemmal in Ordnung kommen! Die Hauptsache ist: liebe deinen nächsen wie dich selbst; das ist die Hauptsache, das ist alles, weiter ist nichts mehr nötig: dann wirst du sofort wissen, was du zu tun hast. Und dabei ist das ja nur eine alte Wahrheit, billionenmal wiederholt und gelesen, aber den Menschen nicht in Fleisch und Blut übergegangen! „Die Erkenntnis des Lebens steht höher als das Glück“, das ist die Anschauung, die es gilt zu bekämpfen! Und ich werde sie bekämpfen. Wenn nur jeder will, dann wird alles sogleich in Ordnung kommen.
Aber jenes kleinen Mädchen habe ich ausfindig gemacht… Und ich werde hingehen! Ich werde hingehen!